DER WATCHDOG

Titel	Steve
Genre	Drama
Jahr	2025
FSK	16
Regie	Tim Mielants

Ein Spiegel menschlicher Zerrissenheit

Es gibt Momente, in denen Verantwortung nicht nur eine Bürde ist, sondern ein Spiegel der eigenen Zerbrechlichkeit. Wenn Fürsorge auf Überforderung trifft, wenn das Bedürfnis, andere zu schützen, die eigenen Grenzen offenlegt, entsteht ein Spannungsfeld zwischen Pflicht und Selbstverlust. “Steve” erkundet genau dieses Terrain: die fragilen Mechanismen menschlicher Empathie, die ungleich verteilten Chancen, die Härte sozialer Systeme und die leisen, flüchtigen Momente der Hoffnung, die selbst in der dunkelsten Umgebung aufblitzen. Es ist eine Reflexion darüber, wie Gewalt und Fürsorge, Scheitern und Menschlichkeit untrennbar miteinander verbunden sind.

In diesem Spannungsfeld entfaltet „Steve“ die Geschichte des gleichnamigen Direktors einer Besserungsanstalt für schwer erziehbare Jungen in den 1990er Jahren. „Peaky Blinders“-Star Cillian Murphy verkörpert darin einen Mann, der plötzlich von der drohenden Schließung seiner Einrichtung erfährt und sich zugleich seinen eigenen inneren Widersprüchen stellen muss. Parallel zeichnet das Netflix Original das Porträt von Shy (Jay Lycurgo), einem der Jugendlichen, dessen gewalttätige Vergangenheit und leiser Wunsch nach einem besseren Leben aufeinanderprallen und ein zartes, aber brennendes Drama der Hoffnung und Verzweiflung entfalten. Tim Mielants (“Small Things Like These”) inszeniert die Institution als einen Ort, an dem Macht, Grenzen und Zerbrechlichkeit untrennbar verschmelzen – und das mit einer mitreißenden Intensität, die das Publikum mitten in das emotionale Chaos zieht und jeden Moment von Druck, Konflikt und zarter Menschlichkeit zu einem spürbaren Erlebnis macht.

Murphy in der besten Rolle seiner Karrier

Cillian Murphy liefert in „Steve“ zweifellos die stärkste Performance seiner Karriere ab. Lange Zeit hatte sich der irische Charaktermime vor allem durch Charisma, Präsenz und nuancierten Ausdruck einen Namen gemacht – und konnte mit „Oppenheimer“ zuletzt sogar den Oscar als bester Hauptdarsteller mit nach Hause nehmen. Doch während er in Nolans durchwachsenem Biopic noch vom Prestige des Projekts profitierte, hat er hier endlich die Bühne, auf der er ungefiltert zeigen kann, was in ihm steckt. Jeder Blick, jede kleine Geste ist geladen mit innerer Spannung und Schmerz; Murphy transportiert die Überforderung, die moralische Zerrissenheit und die aufkeimende Hoffnung seiner Figur so direkt und intensiv, dass seine Darstellung nicht nur bewegt, sondern förmlich auf der Haut spürbar wird. In dieser Rolle findet er sich selbst neu: ein Schauspieler, der jenseits von Reputation und ikonischen Rollen seine ganze Bandbreite offenbart – eine echte Oscar-Rolle, nicht durch das Projekt getragen, sondern durch pure schauspielerische Kraft.

Regisseur Tim Mielants unterstützt diese Intensität durch eine ebenso unnachgiebige wie unmittelbare Inszenierung. Die Kamera ist unruhig, fast handgehalten, dicht bei den Figuren, fängt jedes Zucken von Murphys Mimik ein, jede Unsicherheit und jeden Moment der Kontrolle. Die Inszenierung vermittelt Authentizität und Rohheit, lässt das Drama zu einem Thriller werden – ein unruhiger Wettlauf gegen die Zeit, gegen Bürokratie, Profitgier und ein marodes System. Eingespielte Interviews der Jugendlichen, die dokumentarisch wirken, durchbrechen den narrativen Fluss und schaffen eine zusätzliche Ebene der Dringlichkeit: Sie geben den Stimmen der Insassen Raum und unterstreichen die authentische Lebenswirklichkeit. Zusammen ergibt sich so ein Film, der emotional packt, aufwühlt und die Zuschauerschaft unweigerlich hineinzieht – ein hochkonzentriertes, mitreißendes Drama, das die menschlichen Grenzen auslotet und gleichzeitig ein schauspielerisches Meisterstück von Cillian Murphy präsentiert.